Die Macht des Wortes – Wie funktioniert „unsere“ Methode in Schreibwerkstätten?

Botschaften von mir, über mich, an mich

Seit Längerem wollen wir im Wanderbrief auch Interviews präsentieren – mit Personen, die über unsere Themen viel zu sagen haben. Den Anfang macht Alexander Wilhelm. Er ist Dipl.-Pädagoge und arbeitet in den Bereichen Sprach- und Psychotherapie in eigener Praxis in Dortmund. Seit mehr als 20 Jahren ist die Poesie- und Bibliotherapie einer der wesentlichen Schwerpunkte seiner Arbeit; er bildet auch andere Menschen als Poesie- und BibliotherapeutInnen aus. Und darüber haben wir ihn auch kennengelernt: Er ist einer der Dozenten unserer Ausbildung als „Leiterinnen persönlichkeitsbildender Schreibwerkstätten“. Wir freuen uns sehr, dass er die Zeit gefunden hat, sich für den Wanderbrief mit uns zu unterhalten.

Nicht nur für die Klinik: Poesie- und Bibliotherapie

Dorothee Köhler (DK): Poesie- und Bibliotherapie – das klingt ja zunächst sehr klinisch, sehr psychiatrisch.

Alexander Wilhelm (AW): Wir verstehen den Begriff der „Therapie“ weiter, als er derzeit meist gesehen wird, nämlich im Sinne der Alten Griechen. Für die bedeutete therapeia (θεραπεία) nichts anderes als Dienen, Pflegen, Heilen. Poesie- und Bibliotherapie kann, aber muss nicht im therapeutischen Kontext angewandt werden. Sie hat auch ihren Platz in Schreibwerkstätten, dort wirkt sie persönlichkeitsbildend.

DK: Was genau passiert denn in der Poesie- und Bibliotherapie?

AW: In der Poesie- und Bibliotherapie kann die Persönlichkeit mithilfe des gezielten Einsatzes von Texten – geschrieben oder gelesen – gefördert und unterstützt werden. Poesietherapie ist der Einsatz des eigenen Schreibens – das heißt, ich nutze einen Einstieg und lasse KlientInnen oder Schreibgruppen-TeilnehmerInnen selbst schreiben, in Einzelarbeit oder in einer Gruppe. Die Bibliotherapie ist die Nutzung von gelesenen, vorgelesenen Texten in der Wirkung auf den Menschen. Das kann Literatur sein, aber auch andere Texte. Manchmal genügen sogar schon Sätze, oder Wörter! Ich habe in meiner eigenen Arbeit schon oft die Erfahrung gemacht, dass ein einzelnes Wort viel auslösen kann.

Sibylle Mühlke (SM): Meist wird ja, wenn überhaupt, nur von Poesietherapie gesprochen.

AW: Ich halte den Begriff der Bibliotherapie nach wie vor für wichtig. Natürlich finde ich in Schreibwerkstätten mit dem eigenen Schreiben einen Ausdruck für etwas. Aber die Wirkung eines vorgelesenen Textes ist auf uns fast noch größer als die Wirkung des eigenen Schreibens! Die Impulstexte und die anderen Texte aus der Gruppe können etwas Unerwartetes in mir anstoßen, woran ich noch gar nicht gedacht habe.

Was passiert in so einer Schreibwerkstatt?

SM: Die Texte aus der Gruppe – das ist ein gutes Stichwort, um auf den Unterschied des „Schreibens nur für sich“ und der Arbeit in Schreibwerkstätten, in einer Gruppe einzugehen. Was passiert da in so einer Gruppe? Was erwartet eine Person, die in so eine Schreibwerkstatt kommt?

AW: Ich kann über einen anderen Text – einen Impulstext –, über eine Bewegung, über ein Bild, einen Schreibprozess auslösen. Ich lese beispielsweise einen Text vor und lasse aus der Resonanz darauf schreiben. Und ich wähle ganz bewusst aus, was ich die TeilnehmerInnen schreiben lasse: einen assoziativen Text, der frei von jeder Form ist, ein verdichteter Text, also ein Gedicht, oder ich gehe in den erzählerischen Bereich, und auch da unterscheide ich verschiedenen Formen. Jede Form bewirkt etwas anderes. Anschließend werden die Texte vorgelesen. Wir sprechen dann vom Prozess der Veröffentlichung.

Das Vorlesen, die Veröffentlichung eines Textes ist absolut kein „Muss“ – auch nicht in den wandern und schreiben-Workshops. Wir gehen auf die große Bedeutung der Freiwilligkeit später genauer ein.

AW: Beim Vorlesen höre ich meine eigene Stimme, meinen eigenen Text, das kann besondere Gefühle und Entdeckungen ermöglichen.

SM: Die Sachen bekommen durch das Vorlesen ein neues Gewicht.

AW: Ja. Und ich zeige mich der Gruppe. Dazu ist es natürlich wichtig, dass seitens der Gruppenleitung ein gutes, vertrauensvolles Klima geschaffen wurde. Wenn ich möchte, höre ich im Anschluss an das Vorlesen von den anderen TeilnehmerInnen, was mein Text bei ihnen ausgelöst hat, was sie beobachten.

SM: Aber es wird nicht gewertet!

AW: Genau. Was zu den Texten gesagt wird, ist wertneutral. Denn auch ein Text kann verschiedene Ansichten hervorrufen und was die eine schön findet, findet der andere vielleicht gar nicht so schön. Aber wenn alles nur schön geschrieben werden soll, bringt das auch nicht viel.

DK: Ich habe die Möglichkeit, meine eigene Sprache zu finden.

AW: Absolut. Es geht darum, mich nicht so auszudrücken wie alle anderen, sondern etwas Eigenes zu finden – so wie ich es empfinde, wie ich es beschreibe. Etwas von mir Gestaltetes. Um kreativ Worte zusammenzusetzen, brauche ich keine spezielle Ausbildung, ich muss es mir nur erlauben. Ich sehe das auch als wesentliche Aufgabe von GruppenleiterInnen, eine Atmosphäre zu schaffen, in der Kreativität entstehen kann. Denn die meisten erlauben sich ja nicht, einfach mit Worten zu spielen. Wirklich zu spielen. Denn spielen heißt ja: ich probiere was aus, und egal, was dabei rauskommt, es ist gut genug.

Jede und jeder kann schreiben – für wen sind Schreibwerkstätten?

Alexander Wilhelm hat bereits mit Kindern, Analphabeten und Dementen poesie- und bibliotherapeutisch gearbeitet. Und auch Schreibwerkstätten – und Workshops wie unsere – richten sich keineswegs nur an Schreiberfahrene. Ganz im Gegenteil!

SM: Für wen ist die Poesie- und Bibliotherapie, sind solche Schreibwerkstätten geeignet?

AW: Die Bereitschaft, sich mit Worten, schriftlich auszudrücken, muss da sein. Wenn ich bereit bin, zu versuchen, einmal zu erleben, wie ich etwas schriftlich ausdrücke, dann kann ich von einer Schreibwerkstatt profitieren.

SM: „Ich kann ja gar nicht schreiben, ich war schon in der Schule immer so schlecht“ – diesen Einwand lässt du also nicht gelten?

AW: Genau. Es ist auch völlig gleichgültig, welche Bildungsvoraussetzungen ich habe; ich habe auch schon oft mit Menschen gearbeitet, die mit Literatur überhaupt nichts am Hut haben. Poesie- und Bibliotherapie funktioniert auch mit Groschenromanen, mit solchen „Romänschen“! Mir ist wichtig, dass Menschen Texte zu ihrer Stärkung nehmen und sie das rausholen, was sie gut finden und was ihnen gut tut – und nicht das, was irgendein Literaturkritiker empfiehlt.

Warum hilft‘s? Wirkfaktoren

DK: Uns würde noch interessieren, welche Wirkfaktoren du bei der Poesie- und Bibliotherapie siehst. Warum hilft das?

AW: Erstmal den Wirkfaktor der Bewusstwerdung: Ich gewinne eine Einsicht in das, was vor sich geht, wie ich etwas erlebt habe, in welchem Zusammenhang das steht. Darüber hinaus kann ich durch die Gruppe Solidarität erleben. Ich sehe: Ach, es ist nicht nur mir so ergangen. Und durch eine vertrauensvolle, verständnisvolle Gruppe und Leitung ist auch eine Nachsozialisation möglich.

SM: Bei Schreibwerkstätten, bei der nicht-therapeutischen Arbeit in gewissen Grenzen.

AW: Ja. Doch ich kann auch da die Erfahrung machen, dass ich angenommen werde, wenn ich mich mit etwas zeige, das ich zunächst gar nicht sehen wollte. Das ist für mich eine ganz wichtige Erfahrung: Ich werde genau so geschätzt wie vorher.

Ohne Zwänge

SM: Reden wir vielleicht noch einmal über das Element der Freiwilligkeit. Das ist ja auch ein sehr wichtiger Faktor.

AW: Unbedingt! Es gibt zum Beispiel von Pennebaker eine Untersuchung (vgl .Pennebaker, James W. „Heilung durch Schreiben“ Bern 2010), in der er feststellte, dass das Vorlesen von Texten schadet. Ich war erst verblüfft, bis ich herausbekam, er hat Gruppen gebildet, wo das Vorlesen eine Verpflichtung war.

DK: Das hemmt ja schon beim Schreiben.

AW: Natürlich! Wenn ich denke, ohgottogott, gleich muss ich vorlesen, schreibe ich nicht viel und ziehe mich sofort zurück. Der Prozess ist in dem Moment beendet, wo er beginnt. Und was man auch nicht vergessen darf: Aus jeder Schreibsituation, nehmen die Teilnehmer etwas mit – auch wenn sie nicht vorlesen.

Die Macht des Wortes verantwortungsvoll nutzen – Was lernen Schreibgruppen-LeiterInnen?

Aus Deutschland gibt es bereits aus der Zeit um 1870–75 Belege, die zeigen, dass im psychiatrischen Bereich mit Texten gearbeitet wurde. Weiterentwickelt wurde die Methode Anfang des vorigen Jahrhunderts vor allem in den US, dort ist Poetry Therapy seit den 1960er-, 70er-Jahren als eigenständige Methode im Heilwesen etabliert. In Deutschland wurden seit den 60er-Jahren Impulse von Ilse Orth und Hilarion Petzold vom Fritz-Perls-Institut aufgenommen und wesentlich weiter entwickelt. Das Institut bildet TherapeutInnen und SchreibgruppenleiterInnen aus – unter anderem auch uns.

SM: Du hast jetzt schon mehrmals die Rolle der SchreibgruppenleiterInnen für das Gelingen des Prozesses erwähnt.

AW: Selbst wenn man nicht psychotherapeutisch arbeitet, sondern im Bildungsbereich, bei Schreibwerkstätten, bleibt, haben die GruppenleiterInnen eine hohe Verantwortung. Auch in solchen Schreibwerkstätten entstehen bei den Teilnehmenden Emotionen, es gibt Gruppendynamiken. Es ist notwenig, dass die Leitenden damit angemessen umgehen, dass sie die TeilnehmerInnen dann nicht stehenlassen mit ihren Emotionen. Ich höre von anderen Schreibwerkstätten immer wieder, dass das passiert. Und beim Aufbau eines Kurses, eines Workshops müssen die einzelnen Schritte sinnvoll konzipiert sein und die LeiterInnen müssen auch wissen, welche Themen schwierig sein könnten. Sie müssen sich bewusst sein, was sie damit auslösen können. Denn die Poesie- und Bibliotherapie, egal ob im therapeutischen Setting oder im Bildungs-Setting, hat eine enorme Macht, die Macht des Wortes.

Natur, Bewegung, Schreiben

DK: Wir bringen ja das persönlichkeitsbildende Schreiben mit Bewegung in der Natur zusammen. Wie schätzt du das denn ein: Wie sinnvoll oder gut ist diese Kombination?

AW: Natur, Bewegung und Schreiben sind untrennbar! Wir sind als Menschen Teil der Natur. Und Bewegung ist unter anderem auch Schreiben. In der Bewegung – zum Beispiel beim Bergwandern – bin ich mit mir und meinen Fähigkeiten teilweise am Limit. Wenn ich in dem Augenblick mein Gefühl zu Papier bringe, ist das etwas ganz anderes, als wenn ich in einer Volkshochschule sitze. Ich bin dann viel näher bei mir. Friedrich Nietzsche war sich seinerzeit sicher zu erkennen, ob ein Text „ersessen oder ergangen“ sei.

DK/SM: Vielen Dank für das Gespräch.